Eine Frau, die sich was traut

von Martin Feldbauer

Die Architektin Marie-Theres Deutsch kämpft seit 30 Jahren für eine lebenswerte Stadt. Die heute 60-Jährige hat Spuren in Frankfurt hinterlassen. Sie hat beispielsweise das Konzept zur Öffnung und Belebung des Mainufers entwickelt.

Wo ist bloß das Mainufer geblieben? Verschwunden unter einem wilden Durcheinander von Dixi-Klos, Buden, Ständen, Bühnen. Lastwagen und Gabelstapler brummen über die Gehwege, zerwühlen die Rasenflächen. Marie-Theres Deutsch schaut sich entsetzt um, weicht einem Trupp Männer aus, die eine überdimensionale Reklame-Figur schleppen. „Das geht überhaupt nicht“, sagt die 60-Jährige dann, „das ist ja völlig aus dem Ruder gelaufen.“ Wir sind mitten in die Aufbauarbeiten zum Museumsuferfest hineingeraten. Vor mehr als zwei Jahrzehnten hatte die Architektin im Auftrag der Stadt das Konzept zur Öffnung und Belebung der innerstädtischen Mainufer entwickelt – doch dass sich die Feste- und Freizeitgesellschaft so breitmacht, hat sie nicht gewollt.

„Es sollte auch bei großen Events immer einen Wechsel geben zwischen Gastronomie und Ruhezonen, in denen nichts geschieht – das ist nicht gelungen“, klagt die Absolventin der Städelschule. Mitten im Trubel, in Höhe des Städel-Museums, ragt die riesige Stele des Bildhauers Ulrich Rückriem in den Himmel, ein Monolith aus hellgrauem finnischem Granit. Als sie 1984 entstand, war das künstlerische Konzept, dass dieses Werk in einen Dialog tritt mit der Hochhaus-Skyline auf dem anderen Mainufer. Doch vom Dialog keine Spur. Vom Städel-Museum aus ist das Kunstwerk überhaupt nicht zu sehen, alles zugewachsen. „Das müsste man dringend mal freischneiden“, murmelt Deutsch kopfschüttelnd. Sie hat mit Rückriem einst eng zusammengearbeitet, konzipierte 1988 ein Privatmuseum für den Künstler im Osthafen.

Nein, dieser morgendliche Rundgang am Main ernüchtert die kleine, überaus energische Frau, die jetzt seit 35 Jahren in Frankfurt lebt. Sie hat Spuren hinterlassen in dieser Stadt, die sie längst nicht mehr missen will – aber zufrieden ist sie nicht. Niemals wahrscheinlich. Das gehört zu ihrer Persönlichkeit: Wer zufrieden ist, wird träge. Wir finden einen Sitzplatz am Tisch vor einem Café am Ufer, dessen Entstehung sich ebenfalls dem Konzept von Deutsch verdankt. Wespen umschwirren uns. „Mit dem Mainufer hat alles angefangen“, sagt sie nachdenklich. Damals schlug sie auch vor, die Weseler Werft östlich der Flößerbrücke zu beleben und auf der Bastion eine Gastronomie einzurichten. Das Restaurant „Oosten“, das dort heute zum Anziehungspunkt geworden ist, „das entspricht meinem Konzept“.

 

Bis vor den Bundesgerichtshof gezogen

Aber ihren ersten Auftrag erhielt sie, als sie noch bei den großen Künstlern Günter Bock, Thomas Bayrle und Peter Kubelka an der Städelschule studierte. „Ein Kommilitone aus der Filmklasse von Kubelka erzählte mir, dass die Harmonie in Sachsenhausen umgebaut werden sollte.“ Eines der ältesten Kinos der Stadt, damals in ziemlich desolatem Zustand. Die Studentin bewarb sich um den Auftrag und bekam den Zuschlag. „Ich hatte überhaupt keine Erfahrung – es war ein Sprung ins kalte Wasser.“

Die junge Architektin entwarf einen neuen Eingang, konzipierte die Kino-Empore neu. Und verstrickte sich dabei sofort in einen Konflikt mit der Bauaufsichtsbehörde – das von ihr entwickelte Geländer auf dem Balkon war der Stadt zu niedrig. Die Berufsanfängerin zog bis vor den Bundesgerichtshof – und bekam Recht. „Ich will mich nicht verwässern lassen – und damit bin ich weit gekommen“, sagt sie stolz.

Ihr Vater hat ihr das beigebracht – er war ebenfalls Architekt, Leiter der Bauaufsichtsbehörde in ihrer Geburtsstadt Trier. Schon als Kind zog sie mit ihm über die Baustellen und war fasziniert: „Ich wusste mit sechs, dass ich Architektin werden wollte.“ Damals baute sie ihre ersten Häuser, aus Legosteinen. Doch dann geschah etwas Schreckliches: Der geliebte Vater starb sehr früh, die Tochter war gerade einmal 14 Jahre alt. Dieser Tod warf sie vorübergehend aus der Bahn: „Es folgte eine lange Zeit des Zweifels, ich fragte mich, ob mein Berufswunsch der richtige war.“

Andererseits wollte sie „auf keinen Fall in Trier bleiben“, zu eng erschien ihr damals die Provinz. Sie studierte Architektur, in ihrer Geburtsstadt und in Wiesbaden, doch 1980 ging sie in die Metropole Frankfurt. Damals war Architektur ein von Männern dominierter Beruf, „das ist heute auch nicht anders“.

Langsam füllen sich die Tische vor dem Café am Mainufer, die Menschen strömen zur Mittagspause. Deutsch schaut nachdenklich über den Main auf die Skyline, deren Türme im Sonnenlicht verführerisch glitzern.

Die 60-Jährige rät jungen Frauen, die heute Architektin werden, „ein bisschen mutiger zu sein“. Kind und Karriere ließen sich vereinbaren: „Ich habe meine Tochter mit auf die Baustelle genommen und öfter mal dem Polier in den Arm gedrückt.“

Sie beschreibt das Leben als Frau in diesem Beruf noch immer als „physisch und psychisch sehr anstrengend“. Männer besäßen nach wie vor „auf der Baustelle eine andere Akzeptanz“. Sich als einzige Frau dort gegen 30 Männer durchzusetzen, bleibe schwierig: „Manchmal ist es ein großer Kindergarten.“

Aber sie hat sich durchgebissen, bisher drei Jahrzehnte lang. Im Oktober besteht ihr Büro in Frankfurt seit 30 Jahren, kurz nach der Wende 1989/90, gab es gar eine Dependance in Berlin. Die Architektin hoffte damals wie andere in ihrem Beruf von einem Aufschwung in den neuen Bundesländern profitieren zu können: „Aber da hab ich mir eine blutige Nase geholt.“ Frankfurt blieb ihre Stadt. Hier entwarf sie die kleine Kunsthalle Portikus, die 1987 als Anhängsel der Ruine der alten Stadtbibliothek an der Schönen Aussicht eröffnet wurde – später, im Jahre 2004, wieder abgerissen. Zugunsten der prächtig aufgezäumten Rekonstruktion der Alten Stadtbiobliothek, heute Sitz des Literaturhauses. Ein bitterer Einschnitt für Deutsch, die sich dennoch nicht entmutigen ließ.

 

Trend zu Luxus-Wohntürmen „kranke Entwicklung“

Es folgten Kindergärten, eine Schul-Cafeteria und immer wieder Wohnhäuser. Projekte im kleinen Maßstab mit viel Liebe zum Detail. Wie etwa das wunderbare weiße Wohngebäude an der Paradiesgasse in Sachsenhausen, in dem sie selbst auch lebt. „Da konnte ich meine Ideen sehr weit durchsetzen.“ Prompt wurde das Projekt mit einem Preis für „vorbildliches Bauen in Hessen“ ausgezeichnet. Ein schmales, nicht auftrumpfendes Gebäude, auf engem Raum, sehr funktional und lichtdurchflutet.

Die Trägerin der Elsässer-Plakette des Bundes Deutscher Architekten (BDA) blieb in all diesen Jahren eine kritische Beobachterin der Entwicklung Frankfurts, ist Mitglied im Städtebaubeirat, der die Stadtregierung berät. Offene Worte scheut sie nicht.

Die Szene in Frankfurt: Eine „extreme Dichte“ von Büros, „ein Architekt auf 400 Einwohner“. Die Zahl wächst immer weiter. Ein Kampf um die Aufträge. Kein guter Umgang untereinander. 95 Prozent der Kollegen nennt sie verächtlich „Auftragsnutten“. Das sind in ihren Augen Architekten, die sich verbiegen, „die dem Investor dienen, um drin zu bleiben“.

Als eine der ganz wenigen Ausnahmen in Frankfurt bekommt Stefan Forster ein Lob, der Wohnungsbau-Spezialist, dessen Büro gerade für den Umbau des Philosophicums in Bockenheim verantwortlich zeichnet. „Den schätze ich, weil er sich nicht einseifen lässt.“

Dem menschengerechten Wohnen gilt ihr ganzes Engagement. Der Boom der Luxus-Wohntürme in Frankfurt, der immer teureren Appartements: „Eine sehr kranke Entwicklung.“ Zu fürchten sei, dass diese Hochhäuser „zur Hälfte leerstehen“, dass da „nur Kapital-Anlage-Wohnungen“ entstünden.

Preiswerte Wohnungen händeringend gesucht: Die prekäre Situation heute erinnert die Architektin an die Aufbau-Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, als es auch darum gegangen sei, rasch viel Wohnraum zu schaffen. Und gerade jetzt behindere „eine Gesetzesflut“ das Bauen, mache es teuer. Der Rat der Architektin: Baugesetze lockern. Weg mit dem Passivhaus-Standard, den gerade die schwarz-grüne Regierungs-Koalition in Frankfurt als ökologische Errungenschaft verteidigt. „Der Passivhaus-Bau ist zu teuer, das Kosten-Nutzen-Verhältnis stimmt nicht mehr.“

Deutsch schaut jetzt richtig zufrieden aus. Sie hat wieder mal provoziert, sich in die Nesseln gesetzt. Das ist schließlich ihre Aufgabe. Aber natürlich ist nicht alles schlecht. Immer wieder findet sie mit ihrem kleinen Team Auftraggeber, „die etwas Besonderes wollen“, Investoren, mit denen das Bauen „Spaß macht“. Gerade entwickeln die Architektin und ihre Mitarbeiter an der Oberlindau im Westend ein Wohnhaus, bei dem sie kreative Freiheit genießen.

Sie lacht manchmal herzerfrischend und mit einem Augenzwinkern. Marie-Theres Deutsch ist mit sich und mit ihrem Leben im Reinen.